Ein Familienfall – Angst vor den Behörden überfordert einen Vater: Er vernachlässigt seine elterliche Verantwortung und riskiert das Lebens seiner Tochter.

Geschrieben von Kaum Morina

Als Sprach- und Integrationsmittler bin ich immer bereit, die Verständigung über Rechte und Pflichten in familiären Angelegenheiten, die sich aus deutschem Recht ableiten und den davon teilweise aus kulturellen Gründen abweichenden Vorstellungen zu ermöglichen. Damit ist nicht die Sprachbarriere, die bereits hinlänglich bekannt ist, angesprochen, sondern Verständigungsbarrieren die sich aufgrund von verschiedenen Lebensweisen und Lebensumständen, ergeben. Wie viel Zeit und vergeblichen Bemühungen man sich durch den Einsatz von Sprach- und Integrationsmittler sparen kann, zeigt folgendes Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung.

 

Die Roma Familie M. kam mit fünf Kindern aus Makedonien nach Deutschland. Die 13-jährige Tochter K. wurde durch Bewegung im Freien sehr schnell entkräftet. Sie klagte oft über Müdigkeit und Unwohlsein. Nach der Untersuchung des Mädchens stellten die Ärzte eine schwere Herzkrankheit fest, die auf längere Sicht lebensgefährlich sein würde. Die 13-jährige K. brauchte möglichst schnell eine Herzoperation.

Der zuständige Kardiologe informierte den Vater, gab eine Einweisung zum Herzklinikum in Duisburg und verabredete für das Mädchen einen Termin. Aber der Vater ignorierte die ärztliche Empfehlung und nahm den Termin nicht wahr. Der Kardiologe benachrichtigte den Vater beim nächsten Mal schriftlich. Nachdem sich der Vater wieder nicht zurückmeldete, setzte sich der Arzt mit dem Sozialamt, das für die Finanzierung ärztlicher Behandlung für Familie M. zuständig war, in Verbindung.

Den Termin beim Sozialamt verweigerte der Vater nicht, aber er wollte keine Einverständniserklärung für die Herzoperation seiner Tochter unterschreiben. Er war der Meinung, dass je schneller sie operiert werde, desto schneller werde seine Familie nach Makedonien abgeschoben. Er sei bereit die Gesundheit seiner Tochter zu riskieren, damit die Familie eine längere Zeit in Deutschland bleiben dürfe. Er behauptete, dass er das Recht habe die Entscheidung für die eigene Tochter treffen zu dürfen.

Das Sozialamt zog das Jugendamt und das Ressort Zuwanderung und Integration hinzu. Zwei Mitarbeiterinnen vom Jugendamt und vom Ressort Zuwanderung und Integration organisierten einen Hausbesuch, um das Mädchen mit einem Krankentransport zum Klinikum nach Duisburg zu bringen. Sie benachrichtigten den Vater über den Termin. Zum vorgesehenen Termin waren alle Beteiligte vor Ort. Aber der Vater öffnete nicht die Tür und ließ die Mitarbeiterinnen nicht in die Wohnung.

Da alle bisherigen Bemühungen den Vater zu überzeugen fruchtlos blieben, trafen die Sozialarbeiterinnen vom Jugendamt und Ressort Zuwanderung und Integration die Entscheidung in diesem Fall einen Sprach- und Integrationsmittler einzusetzen, und ich erhielt deshalb den Auftrag für meinen SprInt-Einsatz.

Ich traf mich mit den beiden Sozialarbeiterinnen vor dem Wohnheim, wo die Familie M. ihren Aufenthalt hatte. Sie erläuterten mir die oben beschriebene Situation. Sie konnten keinen Zugang zum Vater finden und somit der 13-jahrigen K. keine Hilfe zukommen lassen.

 

Aufgrund der Schilderungen machte ich den Vorschlag, dass ich allein zur Wohnung von Familie M. gehe und versuche das Vertrauen des überforderten und sich von Abschiebung bedroht fühlenden Familienvaters zu gewinnen. Da ich Herrn M. in seiner Muttersprache Romanes, deren Erlernen für Nicht-Roma ein Tabu ist, ansprechen konnte, fand ich Zugang zu Herrn M. Die Beherrschung von Romanes zeigen den Roma die Zugehörigkeit des anderen zur eigenen Kultur und zum eigenen Volk an und öffnen die Türen für die Kommunikation.

Dies geschah auch in diesem Fall. Nach meiner Vorstellung öffnete Herr M. die Tür und lud mich in die Wohnung ein. Dort besprachen wir die ganze Familiensituation und sein Verhalten in der letzten Zeit. Herr M. bestätigte alles, was mir von den Sozialarbeiterinnen bereits mitgeteilt wurde. Aber er teilte mir noch etwas Weiteres mit, was er wegen der Angst vor den Behörden, dem Unwissen vom deutschen Sozialwesen und der Sprachbarriere niemanden sagen konnte. Das Ausländeramt habe ihn gebeten der freiwilligen Ausreise zuzustimmen. Herr M. habe dies abgelehnt. Nach der Ablehnung der freiwilligen Ausreise bekam der Familienvater die Anschreiben und Empfehlungen vom Arzt, dem Sozialamt, dem Jugendamt, und dem Ressort Zuwanderung und Integration. Er stellte einen Zusammenhang zwischen der Ablehnung der freiwilligen Ausreise und den Aktivitäten der verschiedenen kommunalen Institutionen her. Er dachte, dass alle beteiligten Akteure für die Abschiebung zuständig seien, und sie deshalb seine kranke Tochter aus der Familie nehmen wollen, sie schnell operieren zu lassen und dann die Familie sofort nach Makedonien abzuschieben.

Ich erläuterte Herrn K. die Funktionen vom Sozialamt, vom Jugendamt und vom Ressort Zuwanderung und Integration und erklärte ihm, dass die Sozialarbeiterinnen nur zum Wohl des Kindes handeln werden. Außerdem teilte ich ihm mit, dass er sich beim Ressort Zuwanderung und Integration wegen der befürchteten Abschiebung beraten lassen kann. Ich überzeugte Herr K. die beiden Sozialarbeiterinnen in die Wohnung einlassen und mit ihnen das weitere Vorgehen zu besprechen.

Epilog

Nach kurzer Zeit war die kleine K. erfolgreich operiert. Nach einer Woche wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen und nach zwei Wochen durfte sie wieder in die Schule gehen. Bei allen weiteren Terminen war ich für Aufrechterhaltung des Vertrauens und der Verständigung mit dem Vater zugegen. Nach der Operation besuchte ich das Mädchen in der Schule. Sie war in einem guten körperlichen Zustand und spielte mit den anderen Kindern im Schulhof. Der operierende Arzt legte einen Termin für eine Kontrolluntersuchung der jungen Patientin nach Ablauf von sechs Monaten fest. Nach einem Jahr soll die zweite Kontrolluntersuchung stattfinden. Der Familienvater fühlt sich nun sicher und kooperiert mit dem Ressort Zuwanderung und Integration.

(Alle Namen und Wohnort der Familie wurden geändert.)